1. Platz Puchheimer Schreibwettbewerb 2025

Über dem Rauschen des Meeres schwebte ein Pfeifen. Hye-jins Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. Sie ließ die Luft aus den Lungen strömen und sog sie mit gespitzten Lippen wieder ein. Der Atem war ihr wichtigstes Arbeitswerkzeug.
Sumbisori – so bezeichnen sie jene pfeifende Atemtechnik, die die verbrauchte Luft nach jedem Tauchgang schnell, aber nicht hastig, gegen frischen Sauerstoff austauscht. Mit sieben Jahren begann ihre Mutter, Hye-jin darin zu lehren, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Pfeifstimme zu finden. Inzwischen – fast zwanzig Jahre später – war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
Um sie herum tauchten weitere Köpfe auf, ihre Mutter, Tanten, junge Frauen und alte, in schwarzem Neopren mit runder Taucherbrille, wie ein Rudel Seehunde. Und wie diese waren auch sie auf der Jagd.
Hier, vor der Insel Jeju, vor dem südlichsten Zipfel Südkoreas tauchten sie nach Muscheln, Oktopus und Seeigeln, ohne Atemgerät, seit Jahrhunderten.
Haenyeo nennen sie sich, Meerfrauen. Von Mutter zu Tochter geben sie ihr Wissen weiter – die Kunst, den Atem loszulassen und minutenlang in den Tiefen des Ozeans zu verschwinden.
Hye-jin ließ den Sauerstoff in ihre Lunge fließen. Dann hielt sie die Luft an und tauchte wieder hinab, bis der Druck des Wassers über ihr so groß war, dass sie sich einfach fallen lassen konnte.
Stille. Absolute Stille um sie herum. Einen Moment ließ sich Hye-jin treiben, nur sie existierte, sie und ihr ungeborenes Kind. Der extraweite Neoprenanzug hielt ihren Bauch sicher. Sie spürte ihr Herz unter ihren gefüllten Lungen pochen. Langsam, ganz langsam schlug es für sie zwei.
Schon ihre Mutter trug sie unter Wasser, so wie deren Mutter und deren Mutter davor. Die Forscher aus den USA nannten es eine Superkraft, dass ihre Herzfrequenz beim Tauchen so weit sank, dass sie – selbst schwanger – über zehn Meter tief ihre Meeresgärten beernten konnten.
Hye-jin suchte den felsigen Meeresboden ab, nach Seegurken, Mondschnecken und Abalone-Muscheln. Das Bitchang baumelte an ihrem Handgelenk, bereit, die Schalentiere vom Stein zu stemmen. Ein flaches Brecheisen, markiert mit dem Zeichen der Familie, weitergegeben über die Generationen.
Hye-jin griff nach der Abalone, die sie unter einem Felsvorsprung entdeckt hatte. Sie setzte das Werkzeug an, bis sich das Tier vom Untergrund löste und nahm es vorsichtig in die Hand. Dann griff sie nach dem Seil, das sie um ihren Bauch gebunden hatte und das mit einer Boje an der Meeresoberfläche verbunden war.
Langsam stieg sie auf, gegen den Widerstand des Wassers, bis sie leicht wurde, ohne Kraft nach oben trieb, dem Licht der Sonne entgegen. Einzelne Luftblasen perlten aus ihrem Mund, stiegen ihr voran an die Oberfläche, bis auch ihr Kopf über dem Wasser auftauchte. Sie ließ die verbrauchte Luft aus ihren Lungen entweichen und sog die frische mit einem ziehenden Pfiff wieder ein.
Quietsch-orange tanzte die Boje in der Dünung. Hye-jin entließ ihre Beute in das Netz, das darunter befestigt war. Ihre Lungen brannten.
Neben ihr ertönte das Pfeifen ihrer Mutter und ihr Kopf erschien über Wasser. Hye-jin erwiderte ihre Zeichen. Alles in Ordnung? Alles in Ordnung. Alles, was sie über das Meer und das Tauchen wusste, hatte sie von ihr gelernt.
Hinter ihnen klatschten die Wellen an Min-joons Boot. Er behauptete, jede einzelne Taucherin unter Wasser an ihren Luftblasen zu erkennen, die sie beim Aufstieg ausstieß.
Mit seinem Boot hatte er sie auf die offene See gefahren. Hier, an diese Stelle, die zu dieser Jahreszeit reiche Beute versprach. Hye-jin tauchte erneut ab, ihr Erntenetz war noch lange nicht voll. Mit ihrem Jagderfolg stand und fiel das Einkommen ihrer Familie.
Wieder sank sie hinab, in die Umarmung des Meeres. Nirgendwo war sie so frei, so schwerelos, ein kleines Teilchen im Universum, das an seinen vorgegebenen Platz fiel.
Mit mühelosen Zügen und mit geübtem Blick schwamm sie über die Klippen, Kanten und Schluchten der rauen Felslandschaft auf dem Meeresboden. Sie kannte die Winkel und Ecken, in denen die besten Meeresfrüchte saßen. Doch heute war das Meer geizig. Ihr Lungen signalisierten den nahenden Aufstieg.
Hye-jin verlagerte ihren Körper in die Senkrechte, und in der Drehung sah sie es. Im sanften Blau der Meerestiefe trieb ein Körper. Sie gab das Handzeichen. Alles in Ordnung? Keine Reaktion. Noch einmal. Nichts.
Ihr Herz setzte einen Moment aus, um dann um so schneller zu schlagen. Sie zwang sich zur Ruhe, drückte den Puls wieder hinunter, während sie darauf zuschwamm.
Mutter? Bitte nicht Mutter! Doch es waren ihre Augen, die sie aus der runden Taucherbrille anstarrten. Leblos. Ein lautloser Schrei erstickte in ihr.
Hye-jin packte sie, mehr Taucherinnen kamen hinzu. Gemeinsam leiteten sie den schlaffen Körper nach oben, das Seil entlang, zum Licht, zur Luft.
»Eomma!«, keuchte sie zwischen zwei Atemzügen, »Mama! Mach die Augen auf!« Ein harter Stich schoss ihr in den Unterleib. Hye-jin krümmte sich, atmete darüber hinweg.
Sie hielten Mutters Kopf über Wasser, während sie, von ihren Flossen getrieben, zum Boot schwammen. Min-joon stand mit dem Bootshaken schon bereit.
»Ihre Luftblasen blieben zu lange aus«, rief er gegen das Meeresrauschen an. Er zog sie hinauf.
»Ich habe der Ambulanz schon gefunkt.« Eine Taucherin nach der anderen stieg an Bord, schnell, schnell.
»Sie erwarten uns am Hafen.« Er verschwand im Steuerhaus, das Boot nahm Fahrt auf. Ein pulsierender Schmerz krampfte über Hye-jins harten Bauch. Sie stöhnte auf und ging in die Knie. Das Ziehen nahm kein Ende, drückte sie hinab auf die nassen Planken. Atmen, einatmen, ausatmen. Eine der Taucherinnen ließ von ihrer Mutter ab, wandte sich zu ihr.
»Dein Kind hat den Zeitpunkt gewählt.« Sie schälte Hye-jin aus dem Neopren. Farblose Flüssigkeit lief zwischen ihren Beinen hinab.
»Eomma?« Sie setzte sich wieder auf. »Was ist mit ihr?«
Die Taucherinnen gaben keine Entwarnung, bemühten sich weiter. Gischt stob über die Reling. Im Rhythmus der Wellen rollten die Wehen über Hye-jin hinweg.
»Gleich. Gleich sind wir im Hafen.« Das Kind wollte nicht warten. Blutig und noch an der Nabelschnur legten sie es ihr auf den Bauch, hüllten sie in Handtücher. Der Bootsmotor wummerte. Hye-jin griff nach der Hand ihrer Mutter neben sich.
»Sa-rang soll sie heißen«, flüsterte Hye-jin ihr zu, »wie du!« Die kalten Finger glitten aus ihrer Hand. Eine der Taucherinnen schloss ihrer Mutter die Augen. Tränen rannen über Hye-jins Wangen.
Ein winziger Fuß drückte in ihren Bauch. Sie hob die Decken an. Der warme Geruch nach Leben mischte sich mit der feuchten, salzigen Luft des Meeres. Der Kopf ihrer Tochter pendelte suchend, während sie sich zur Brust schob. So klein, so kraftvoll, so zielstrebig. Ihr Mündlein schloss sich um die Brustwarze. Hye-jin küsste sie auf den Kopf.
»Eine Haenyeo, ja, das bist du!«

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